Leserbrief zu Kim Björn Becker: "Nadeln in der Haut", SZ vom 7./8.11.2015, Seite 4

Sehr geehrte Redaktion Leserbriefe,

Zu Recht empört sich Kim Björn Becker über die ganz legale, alltägliche deutsche Sterbepraxis, an der die jetzige Debatte leider vorbei ging. Fritz J. Raddatz hätte den Gegnern der Sterbehilfe wieder "Infamie" vorgeworfen. Schwerstkranken am Lebensende diesen Rest an Selbstbestimmung zu verweigern kommt einer Entmündigung gleich. Genau das aber haben die Abgeordneten, gegen den Mehrheitswillen der Bevölkerung, in ihrem neuen Gesetzesentwurf zementiert: das Verbot von Sterbehilfe-Organisationen und eine Kriminalisierung der Ärzte, die an einem assistierten Suizid beteiligt sind. Wer gesund genug ist bringt sich besser vorher um, ehe er zu krank dazu ist? Soll das die Botschaft sein? 

"Geschäftsmäßige" Sterbehilfe als unmoralisch zu diffamieren und verbieten ist auch deswegen zynisch, weil ja der Staat durch seine eigene "geschäftsmäßige" Unterfinanzierung der Pflege und Hygiene in Kliniken und Heimen selbst die grausamen Zustände schafft, aus denen sich die Opfer dann nur noch durch Sterbehilfe retten können. Anstatt den Patienten weiter zu entmündigen, sollte er rechtlich gestärkt werden, um, wie in den USA, gegen ärztliche Fehlbehandlung erfolgreicher klagen zu können. Heuchlerisch ist auch, dass der Zuhälter Staat den Bürgern einerseits seine angebliche Beschützerrolle in puncto Sterbehilfe-Verbot aufzwingt, andererseits aber zum Beispiel fahrlässige Tötung bei einem Verkehrsunfall wegen überhöhter Geschwindigkeit mit lächerlichen 1.350 Euro Geldstrafe wie ein Kavaliersdelikt ahndet. 

Als meine Mutter kürzlich in der Klinik Augustinum (nicht zu verwechseln mit dem schönen Wohnstift) starb, erlebte ich als Begleitperson ihr drei-wöchiges Martyrium mit. Zu furchtbaren Schmerzen, unheimlichen Panikattacken, stundenlang daneben laufenden Infusionen, unsanft militärischem Drill, kamen allzu oft solche Demütigungen von Schwestern und Pflegern: "Ja ich weiss, Sie wollen hier bei lebendigem Leib verfaulen, trotzdem müssen wir Sie wenden .... ". Wer diesem Grauen nicht mehr "in die Schweiz" entfliehen kann, dem bleibt nur das letzte Mittel politischer Häftlinge: Hunger- und Durststreik. Ob das "human" ist, können die Abgeordneten ja mal ausprobieren.

Mit freundlichen Grüßen,
Sabine Matthes
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