Film | Porträt | ›Haymatloz. Exil
in der Türkei‹. Interview von Sabine Matthes mit Eren Önsöz und Enver Hirsch
Heute startet der Film
›Haymatloz. Exil in der Türkei‹ in den Kinos. Er ist ein wunderbar
kaleidoskopischer Film und zeigt ein unbekanntes Kapitel
deutsch-jüdisch-türkischer Geschichte in schillernden Facetten. Nostalgisch,
leichtfüßig und charmant, durchweht vom silbrigen Licht und der Gischt des
Bosporus, provoziert er einen raffinierten Perspektivwechsel. Mit hochaktuellen
Fragen für Deutsche und Türken. Von SABINE MATTHES
Als in den 1930er Jahren
deutsch-jüdische Akademiker von den Nazis vertrieben wurden, hofierte sie
Mustafa Kemal Atatürk und lud etwa 1000 von ihnen ein, um seine junge Türkische
Republik nach westlichem Vorbild zu modernisieren. Die Kölner Regisseurin Eren
Önsöz erzählt diese erstaunliche Erfolgsgeschichte mit ihren fünf Protagonisten
Engin Bagda, Susan Ferenz-Schwartz, Kurt Heilbronn, Enver Tandogan Hirsch und
Elisabeth Weber-Belling – den Nachkommen der Emigranten. Das Wort »haymatloz«
wurde den deutschen Flüchtlingen in die Aufenthaltspapiere gestempelt.
Sabine Matthes: Der Film macht einen perplex: Deutschland vernichtete
europäische Werte und Menschenleben, während die Türkei sie voller Bewunderung
aufnahm und verinnerlichte. Sind Türken bessere Europäer als Deutsche?
Eren Önsöz: Sie waren es tatsächlich, als in Europa diese Werte nichts
galten. Beeindruckt hat mich jene Generation, die die Anfänge der jungen
Republik unter Atatürk miterlebt hat und die ich bei meinen Recherchen
kennenlernen durfte. Diese Menschen haben den Geist jener Zeit als
aufklärerisch, pazifistisch und emanzipatorisch beschrieben. Bildung wurde zum
obersten Staatsziel erklärt, für Bildung gab es den höchsten Etat! Was für ein
Gegensatz zu heute…
Damals, als in Europa Hitler,
Mussolini und Franco wüteten, holte Atatürk die verfolgten deutschen
Wissenschaftler ins Land und ließ seinen Leitspruch gegen Kleriker und
Faschisten in Stein meisseln: »Der einzig wahre Führer im Leben ist die
Wissenschaft!« Diese Worte prangen heute noch am Eingang der Fakultät für
Sprache, Geschichte und Geographie in Ankara, errichtet vom Bauhaus Architekten
Bruno Taut.
In einigen Punkten waren die
Türkinnen den Europäerinnen sogar voraus: Sie hatten schon 1934 das aktive und
passive Wahlrecht inne, während Frankreich es erst 10 Jahre später, die
Belgier, Griechen oder Portugiesen gar erst in den 70er Jahren einführten. Die
europäischen, humanistischen Werte haben tiefe Wurzeln in der türkischen
Gesellschaft. Das hat die Bevölkerung lange vor den Gezi-Protesten bei
Massendemonstrationen für Demokratie und Laizismus im ganzen Land bewiesen. Vor
allem die Akademiker haben von der Lehre der Deutschen über mehrere
Generationen an den Universitäten profitiert. Schade, dass so wenig an dieses
gemeinsame Erbe erinnert und angeknüpft wurde. Dabei sollte doch gerade der
Westen Interesse an einer modernen, säkular gesinnten Türkei haben, die
nachhaltig von Deutschlands geistiger Elite geprägt worden ist!?
Warum wollte Kemal Atatürk die
Türkische Republik nach ihrer Gründung 1923 so rigoros europäisieren? Was
bedeutete das für die Bevölkerung? Stand sie hinter ihm?
Eren Önsöz: Es ging Atatürk nicht um ein plattes Imitieren europäischer
Lebensart. Er strebte eine Synthese zwischen Ost und West an. Die Deutschen
arbeiteten mit Begeisterung an Atatürks Plänen und wurden zu Miterschaffern
eines neuen türkischen Nationalbewusstseins. Die Abkehr vom Osmanischen Reich
musste radikal verlaufen, da die Vergangenheit zentnerschwer auf dem Land
lastete: Die Kriege an allen Fronten, das katastrophale Militärbündnis mit den
Deutschen im 1. Weltkrieg, der Ausverkauf des Landes an die westlichen
Imperialisten, die sich als Besatzer aufspielten. Atatürks militärische Erfolge
in den Befreiungskriegen hatten sich im Volk rumgesprochen. Auch merkten die
Menschen, dass dieser Mann das Land befrieden wollte und keine egoistischen
Ziele verfolgte. Nur deshalb hatte der Einzelkämpfer Atatürk den Rückhalt der
Bevölkerung. Ein unbeliebter Despot hätte diese Reformagenda niemals
durchsetzen können. Natürlich hatte und hat er auch heute viele Gegner, das
bleibt bei Visionären nicht aus, die ihrer Zeit voraus sind.
Dabei muss man sich
vergegenwärtigen, dass Atatürk vor fast 100 Jahren Religion und Staat trennte.
Das wäre sogar heute undenkbar. Aber mehr denn je dringend vonnöten angesichts
des steigenden religiösen Fanatismus weltweit. Atatürk hatte sein Land davor
befreit, Spielball der westlichen Nationen zu sein und auf eigene Füsse
gestellt. Aus heutiger Sicht eine globalisierungskritische Haltung. Den
„kranken Mann am Bosporus“ gab es mit ihm nicht mehr. Die junge türkische
Republik war neu auferstanden und gewann für viele andere Nationen
Vorbildcharakter.
Bereits 1492 hat der osmanische
Herrscher Sultan Bayezid II die verfolgten Juden aus Spanien willkommen
geheißen. Ging es Juden unter muslimischer Herrschaft im Allgemeinen besser,
als unter christlich-europäischer?
Eren Önsöz: Das Kapitel der sephardischen Juden, die aus Spanien verjagt
wurden, ist erinnerungswürdig und auch ein trauriges Beispiel für europäische
Intoleranz. Die Nachfahren dieser Juden leben heute noch in Istanbul und
sprechen ihr Ladino. In meinem letzten Film ›Import-Export / Eine Reise in die
deutsch-türkische Vergangenheit‹ porträtiere ich die Familiengeschichte des
Literaturübersetzers Cornelius Bischoff, der in der Türkei aufgewachsen ist.
Für seine jüdische Mutter war die Türkei gleich doppeltes Exilland: Ihre
Vorfahren flüchteten als sephardische Juden von Spanien in die heutige Türkei.
Später lebten sie in Deutschland und mussten erneut flüchten – diesmal vor den
Nazis.
Die Türkei war also zu zwei
völlig unterschiedlichen Epochen Exilland und Heimat für diese jüdische
Familie. Für ein friedliches Miteinander gilt es, solche Beispiele ins
Bewusstsein zu rücken. Die Geschichtsschreibung ist ein sensibles und wichtiges
Terrain. Hier werden Stereotype untermauert – oder aber abgebaut.
Wir wissen von den jüdischen
Intellektuellen, die in die USA emigrierten. Von anderen, die – wie Paul
Hindemith, Bruno Taut, Ernst Reuter oder der als »entartet« diffamierte
Bildhauer Rudolf Belling – in die Türkei flohen, wissen wir wenig. Warum? Weil
diese Hochzeit jüdisch-muslimischer Kooperation dem Narrativ ihrer Feindschaft
widerspricht?
Eren Önsöz: Ich denke, es widerspricht eher dem Klischeebild der Türkei,
dass dieses Kapitel wenig Beachtung fand. Mir ist mit meinem Film wieder
bewusst geworden, dass die wenigsten überhaupt wissen, dass das Land seit den
20er Jahren eine laizistische Verfassung besitzt. Es passt nicht zum
rückständigen Bild des Orient, dass er Frauen förderte, Juden rettete und freie
Wissenschaften propagierte. Es gibt viele positive Beispiele, an die gerne und
oft in jüdisch-muslimischen Kreisen erinnert wird, z.B. an die türkischen
Diplomaten, die Zehntausende Juden mit türkischen Pässen vor den
Konzentrationslagern retteten. Oder die Anerkennung des Staates Israel im Jahr
1948 durch die Türkei, als erstem mehrheitlich muslimischem Land. Bei Haifa in
Israel soll es sogar ein Waldgebiet geben, das jüdische Auswanderer aus der
Türkei ›Atatürk Wald‹ getauft haben.
Ich selbst habe in Istanbul
jüdische Museen und Synagogen besucht, die Ausstellungen zu diesen Themen
organisiert hatten. Noch vor wenigen Jahren hat ein jüdischer Autor der Zeitung
Shalom in Istanbul festgestellt: »Es gab nie Antisemitismus in der Türkei!« Das
Osmanische Reich war bekannt für seine tolerante Haltung gegenüber Juden über
mehrere Jahrhunderte hinweg. Natürlich weht inzwischen ein neuer, intoleranter
Geist in der Türkei, was nicht nur die Juden betrifft. Weltweit werden leider
antisemitische und islamfeindliche Ressentiments geschürt und politisch
benutzt. Das ist ein fataler Rückschritt in der Menschheitsgeschichte, wenn es
doch Orte gab, wo Vertreter aller Welt-Religionen über Jahrhunderte friedlich
nebeneinander lebten. Ich bin froh, dass ich vor vielen Jahren durch Syrien
gereist bin. Dort standen, wie ich es auch aus der Türkei kenne, Synagoge,
Kirche und Moschee beisammen. In Syrien ist diese Vergangenheit schon Schutt
und Asche.
Warum ist Ihr Vater, Ernst Eduard
Hirsch, in die Türkei gegangen? Wie war man dort integriert?
Enver Hirsch:Mein Vater hat 1933 Deutschland verlassen, weil er als Jude
durch das von der NS – Regierung erlassene »Gesetz zur Wiederherstellung des
Berufsbeamtentuns« von seinen Stellungen als Richter am Landgericht und als
Privatdozent an der juristischen Fakultät der Universität Frankfurt/Main »in
den Ruhestand« versetzt wurde, wie es offiziell hieß. Im Grunde genommen wurde
er entlassen und war arbeitslos.
Er wurde dann auf den Lehrstuhl
für Handelsrecht an der reformierten Universität Istanbul berufen. Dort hatte
er zunächst Schwierigkeiten mit der Fakultätsleitung, weil seine für die
damalige Zeit revolutionären Lehrmethoden nicht erwünscht waren. Er sah die
Vorlesung nicht als Vortrag, sondern als Zwiegespräch mit den Studenten. Dafür
genoss er hohes Ansehen in der Studentenschaft und später auch im Lehrkörper.
Außerdem erlernte er sehr schnell die türkische Sprache und war dadurch schon
integriert. Hätte Ernst Reuter ihn nicht nach Berlin geholt, wäre er wohl in
der Türkei geblieben. Ich selbst war in einem türkischen Kindergarten und einer
türkischen Grundschule. Ich hatte auch einen Spielkameraden in unserer Straße,
der griechischer Abstammung war. Aber es waren auch ein paar Migrantenkinder
dabei, sofern sie auf der asiatischen Seite wohnten.
Das islamisch geprägte Recht ist
durch Ihren Vater und andere säkularisiert worden. Wie ging das?
Enver Hirsch: Im Osmanischen Reich gab es schon rechtliche Sondervorschriften
für Minderheiten. Das Islamische Rechtssystem bezog sich im Großen und Ganzen
nur auf die muslimische Bevölkerung.
Die junge türkische Republik war,
wie ich es nennen würde, eine »Demokratur«.
Atatürk wollte auf Biegen und
Brechen aus dem rückständigen Land einen Staat machen, der nach den Prinzipien
des Europäischen Rechts strukturiert ist, also weg vom Orient hin zu Europa.
Und so wurden nach 1923 Gesetze aus europäischen Staaten ins Türkische
übersetzt und als Türkisches Recht in Kraft gesetzt.
So wurde zum Beispiel das
Schweizerische Zivilgesetzbuch in wörtlicher türkischer Übersetzung als BGB der
Türkei 1927 verbindliches Recht.
Ihr Vater war der Türkei in
gegenseitiger Dankbarkeit verbunden.
1943 erhielt er die türkische
Staatsbürgerschaft, bei Ihrer Geburt
1945 gab er Ihnen zwei türkische Vornamen:
Enver Tandogan. Warum ging er 1952 trotzdem in das Land zurück, das ihn einst
verjagt hatte?
Gingen viele Emigranten nach Deutschland zurück oder blieben sie
in der Türkei?
Enver Hirsch: Es war Ernst Reuter, der ihn nach Berlin holte mit dem
Argument, dass an der neuen Freien Universität Berlin kein »Muff von tausend
Jahren unter den Talaren« wäre. 1948 bei Gastvorlesungen in Deutschland hatte
mein Vater insbesondere in München schlechte Erfahrungen mit dem
Nachkriegsbetrieb in deutschen Universitäten gemacht.
Die meisten Professoren sind
zurückgekehrt. Doch einige blieben entweder aus Überzeugung oder weil sie
keinen adäquaten Arbeitsplatz in ihrer Heimat angeboten bekamen.
Welche Spuren haben die Deutschen
in der Türkei hinterlassen?
Eren Önsöz: Eindrucksvolle Spuren sind in der Hauptstadt Ankara zu sehen,
wo Deutsche die Stadtplanung prägten, Siedlungen oder Friedhöfe anlegten und
imposante Skulpturen, Schulgebäude und Universitäten hinterließen. Nicht nur
die Gebäude, in denen sie lehrten, stehen noch, auch das, was sie dort
vermittelt haben, ist noch erstaunlich präsent. So besuchen wir im Film die
Istanbuler Akademie der Schönen Künste, wo Studenten an Aktmodellen Bildhauerei
lernen, wie es der deutsche Professor Rudolf Belling ins Curriculum aufgenommen
hatte.
Die Juristen ehren immer noch
Ernst Hirsch, der das türkische Rechtswesen reformierte, und benennen aktuelle
Studiengänge nach ihm. Unvergessen ist auch Professor Zuckmayer, der
Musikpädagoge, bei dem jeder türkische Musiklehrer in die Lehre ging. Zuckmayer
übersetzte deutsche Kinder- und Schullieder ins Türkische. Meine Eltern sind
mit diesen Liedern in ihrer Schulzeit aufgewachsen.
Die Türkei hat sich fast 100 Jahre
lang um eine Mitgliedschaft im christlichen Club Europa bemüht. Vergeblich. Ist
die heutige Abkehr von Atatürks Laizismus und die Rückwendung zum Islam auch
eine Folge dieser europäischen Zurückweisung?
Eren Önsöz: Ich weiß nicht, ob es eine Rückwendung zum Islam ist. Eher eine
massive Neuzuwendung…Es wurden die falschen Kräfte unterstützt, um jetzt zu
bedauern, dass ein so furchtbar islamisches Land eben keinen Platz im EU-Club
hat. Mit der EU holt man aber in der Türkei sowieso keinen mehr hinterm Ofen hervor.
Der Zug ist abgefahren. Die Demütigung war tatsächlich spürbar. Das ist eben
keine Politik auf Augenhöhe, die sich schon Atatürk und sein Nachfolger Inönü
erkämpfen mussten. Bei den Friedensverhandlungen von Lausanne war Inönü ein
kleinerer Stuhl angeboten worden. Die anderen Delegierten sassen in Sesseln.
Inönü verließ den Saal und meinte er könne warten, bis ein ebensolcher Sessel
aufgetrieben sei. Das ist eine starke Metapher: denn so behandelt der Westen
andere Kulturen, mit denen er zur Ausbeutung gerne „kooperiert“. Denn es sind
ja Menschen 2. Klasse. Flüchtlinge, die neuen Haymatlozen, sind inzwischen eine
neue Kaste: Menschen 3. Klasse. Geschichte wiederholt sich nicht nur, sie
übertrifft sich!
Heute werden in der Türkei
Regimekritiker, Richter, Lehrer, Journalisten, Diplomaten verfolgt und bitten
hier um Asyl. Ist die Lage mit Deutschland 1933 vergleichbar? Wie sehen Sie die
Entwicklung in der Türkei?
Enver Hirsch: Ich hätte mir gewünscht, daß die Türkei 2023 Mitglied der EU
wird. Aber nach dem sog. Putsch ist in der Türkei genau dieselbe Situation
entstanden, wie 1933 in Deutschland.
Als in Berlin bereits 1967 an der
FU das begann, was man heute als 68er Revolte bezeichnet, hatte mein Vater
Angst, dass 1933 zurückkehren würde.
Sein Motto war, er würde mit
Studenten über alles diskutieren, was die Universität betrifft, aber die
allgemeine Politik würde nicht in den Hörsaal gehören. Deswegen ließ er sich
auch bereits mit 65 Jahren 1967 emeritieren, obwohl er bis zum 68. Lebensjahr
an der Universität hätte bleiben können. Ich fühle mich nicht als Deutscher,
sondern als Europäer, der einen deutschen Pass besitzt. Sollte Deutschland zu
meinen Lebzeiten zu einem nationalistischen Gedankengut zurückkehren, müsste
ich mir ein anderes Land in Europa suchen.
Titelangaben
Eine HUPE Film Produktion
Deutschland 2015
90 Minuten
Buch und Regie: Eren Önsöz
Kamera: Andreas Köhler