Leserbrief zu Jörg Häntzschel

Leserbrief zu Jörg Häntzschel: "Bundesrüpelblik Deutschland", SZ vom 2.2.2016, Seite 11
und zu Leserbrief Reaktion: "An der Oberfläche" von Dr. Dietrich W. Schmidt, SZ vom 12.2.2016, Seite 15

Sehr geehrte Redaktion Leserbriefe,

Jörg Häntzschel bringt in dem Artikel "Bundesrüpelblik Deutschland" seine eigenen Erfahrungen mit dem zivilisierten Verhalten in den USA und dem dagegen "ruppig, gleichgültig und missgünstigen" Miteinander in Deutschland wunderbar auf den Punkt. Als ich nach ein paar Jahren in den USA nach Deutschland zurückkam, erlitt ich einen ähnlichen Kulturschock. Während die Offenheit, Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft der Amerikaner mir und meinen Freunden aus Haiti, Panama, Brasilien oder Jamaika dort zu einem erfüllten Leben und Arbeiten verhalf, wird hier der Elan der Neuankömmlinge durch eine kleingeistige staatliche Diktatur pedantischer Bürokratie kastriert. Auch der Better Life Index der OECD, der mit elf Kategorien wie Wohnverhältnisse, Sicherheit, Bildung, Einkommen, Lebenszufriedenheit oder Umweltschutz das gesellschaftliche Wohlergehen der 34 OEZD-Mitgliedsländer vergleicht, gibt Häntzschel Recht. Demnach lebt es sich am besten in Australien, danach kommen Schweden, Kanada, Norwegen, Schweiz, USA und erst an 17.Stelle Deutschland.

So ist die Wut, mit der der Leserbriefschreiber Dr. Dietrich W. Schmidt Häntzschel eine "extrem selektive Sicht" vorwirft und den USA eine "primitiv-darwinistische Gesellschaft" mit "rassistischen Wildwestpolizisten", "religiösen Fanatikern" und "Colt-Fetischisten" wohl eher das Resultat seiner eigenen rassistischen "selektiven Sicht". Er übersieht, dass die USA nicht nur "wissenschaftsfeindliche Creationisten" hervorbringt, sondern auch die kreativsten Köpfe und meisten Nobelpreisträger. Dass sie den geistigen Freiraum und kosmopolitisch-intellektuellen Humus bieten, auf dem Verfolgte und Aussenseiter, kritische Denker und Visionäre wie Hannah Arendt, Edward Said, Quentin Crisp oder Steve Jobs erst zu dem werden können, was ihnen in ihren Herkunftsländern unmöglich ist. Er übersieht, dass die amerikanische Skepsis gegenüber einem übergriffigen Staat auch daher rührt, weil viele Immigranten ja vor totalitären Regimen wie Nazi-Deutschland geflüchtet waren. So gehört die JPFO (Jews for the Preservation of Firearms Ownership) zu Amerikas hartnäckigsten Verfechtern von Schusswaffen-Besitz. Sie argumentiert, dass bewaffnete Bürger die letzte Verteidigungsmöglichkeit gegen Tyrannei durch die eigene Regierung seien, dass sie sich gegen Genozide wie den Holocaust besser schützen wollten. Womöglich ein logischeres Argument, als den Staat Israel atomar zu bewaffnen?

Dem "Colt-Fetischismus" der Amerikaner steht der deutsche "Auto- und Alkohol-Fetischismus" in nichts nach. Damit kann man den Rest Anarchie noch ausleben und falls es tödlich endet, war`s nur ein Kavaliersdelikt. Überhaupt, warum zählt Menschenleben und Gesundheit im Strafrecht hier so wenig, wie Entschuldigungen und Komplimente im Umgangston? Warum gibt es Drogen wie Alkohol und Zigaretten im "Lebensmittel"-Laden, aber kein Aspirin? Warum engagieren sich Deutsche lieber gegen TTIP, als gegen ihre eigenen VW-, Lebensmittel-, Pflegenotstand- oder Klinikkeim-Skandale? Jörg Häntzschels hilfreicher Blick von aussen muss uns noch viel erklären.

Mit freundlichen Grüßen,
Sabine Matthes
Glötzleweg 43
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Tel.: 089-791.8513