"Bildung war oberstes Staatsziel". Europa in der Türkei, damals: Der Film "Haymatloz". Ein Gespräch mit Eren Önsöz und Enver Tandogan Hirsch, junge Welt, 27.10.2016

Aus: Ausgabe vom 27.10.2016, Seite 11 / Feuilleton

»Bildung war oberstes Staatsziel«

Europa in der Türkei, damals: Der Film »Haymatloz«. Ein Gespräch mit Eren Önsöz und Enver Tandogan Hirsch


Von Sabine Matthes
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Der deutsche Bildhauer Rudolf Belling mit seiner Tochter Elisabeth in Istanbul, wo er an der Kunstakademie das ­Curriculum entwarf, während seine Arbeiten in Deutschland als »entartet« verboten wurden
»Haymatloz. Exil in der Türkei«, Regie: Eren Önsöz, Deutschland 2015, 90 min, Kinostart: heute
Eren Önsöz, Jahrgang 1972, ist ­Filmemacherin und Journalistin aus Köln
Enver Tandogan Hirsch, Jahrgang 1945, ist der Sohn des Rechtssoziologen und ­Juristen Ernst Eduard Hirsch (1902–1985)
»Haymatloz. Exil in der Türkei« ist ein wunderbar kaleidoskopischer Film über ein weitgehend unbekanntes Kapitel deutsch-türkischer Geschichte. Als in den 1930er Jahren deutsch-jüdische Akademiker von den Nazis vertrieben wurden, lud der türkische Staatspräsident Mustafa Kemal Atatürk etwa 1.000 von ihnen ein, die junge Republik nach westlichem Vorbild zu modernisieren. Die Kölner Regisseurin Eren Önsöz erzählt diese Geschichte mit ihren fünf Protagonisten Engin Bagda, Susan Ferenz-Schwartz, Kurt Heilbronn, Enver Tandogan Hirsch und Elisabeth Weber-Belling – den Nachkommen der Emigranten. Das Wort »haymatloz« wurde den deutschen Flüchtlingen in die Aufenthaltspapiere gestempelt.
Sind Türken bessere Europäer als Deutsche?
Eren Önsöz: Sie waren es tatsächlich zu einer Zeit, als in Europa diese Werte nichts galten. Beeindruckt hat mich jene Generation, die die Anfänge der jungen Republik unter Atatürk miterlebt hat und die ich bei meinen Recherchen kennenlernen durfte. Diese Menschen haben den Geist jener Zeit als aufklärerisch, pazifistisch und emanzipatorisch beschrieben. Bildung wurde zum obersten Staatsziel erklärt, für Bildung gab es den höchsten Etat! Damals, als in Europa Hitler, Mussolini und Franco wüteten, holte Atatürk die verfolgten deutschen Wissenschaftler ins Land und ließ seinen Leitspruch gegen Kleriker und Faschisten in Stein meißeln: »Der einzig wahre Führer im Leben ist die Wissenschaft!« Diese Worte prangen heute noch am Eingang der Fakultät für Sprache, Geschichte und Geographie in Ankara, errichtet vom Bauhaus Architekten Bruno Taut.
Übrigens waren die Türkinnen den Europäerinnen in machen Punkten voraus. Sie hatten schon 1934 das aktive und passive Wahlrecht, während es die Franzosen erst zehn Jahre später, die Belgier, Griechen oder Portugiesen gar erst in den 70er Jahren einführten. Die europäischen, humanistischen Werte haben tiefe Wurzeln in der türkischen Gesellschaft.
Warum wollte Kemal Atatürk die Türkische Republik nach ihrer Gründung 1923 so rigoros europäisieren?
Önsöz: Es ging Atatürk nicht um ein plattes Imitieren europäischer Lebensart. Er strebte eine Synthese zwischen Ost und West an. Die Abkehr vom Osmanischen Reich musste radikal verlaufen, da die Vergangenheit zentnerschwer auf dem Land lastete: die Kriege an allen Fronten, das katastrophale Militärbündnis mit den Deutschen im Ersten Weltkrieg, der Ausverkauf des Landes an die westlichen Imperialisten. Die Menschen merkten, dass dieser Mann das Land befrieden wollte und keine egoistischen Ziele verfolgte. Ein unbeliebter Despot hätte diese Reformagenda niemals durchsetzen können. Dabei muss man sich vergegenwärtigen, dass Atatürk vor fast 100 Jahren Religion und Staat trennte. Das wäre heute undenkbar. Aber mehr denn je dringend vonnöten angesichts des steigenden religiösen Fanatismus weltweit.
Der Staat war laizistisch, die Religionen verhielten sich friedlich.
 Önsöz: Mir ist mit meinem Film wieder bewusst geworden, die wenigsten wissen überhaupt noch, dass das Land seit den 20er Jahren eine laizistische Verfassung besitzt. Es passt nicht zum rückständigen Bild des Orient, dass Atatürk Frauen förderte, Juden rettete und freie Wissenschaften propagierte. Es gibt viele positive Beispiele, an die gerne und oft in jüdisch-muslimischen Kreisen erinnert wird, zum Beispiel an die türkischen Diplomaten, die Zehntausende Juden mit türkischen Pässen vor den Konzentrationslagern retteten. Oder die Anerkennung des Staates Israel im Jahr 1948 durch die Türkei, als erstem mehrheitlich muslimischem Land. Bei Haifa in Israel soll es sogar ein Waldgebiet geben, das jüdische Auswanderer aus der Türkei »Atatürk-Wald« getauft haben.
Natürlich weht inzwischen ein neuer, intoleranter Geist in der Türkei, nicht nur gegenüber den Juden. Ich bin froh, dass ich vor vielen Jahren noch durch Syrien gereist bin. Dort standen, wie ich es auch aus der Türkei kenne, Synagoge, Kirche und Moschee beisammen. In Syrien ist diese Vergangenheit schon Schutt und Asche.
Herr Hirsch, das islamisch geprägte Recht ist durch Ihren Vater, Ernst Eduard Hirsch, und andere säkularisiert worden.
Enver Hirsch: Im Osmanischen Reich gab es schon rechtliche Sondervorschriften für Minderheiten. Das islamische Rechtssystem bezog sich im großen und ganzen nur auf die muslimische Bevölkerung. Die junge türkische Republik war, wie ich es nennen würde, eine »Demokratur«. Atatürk wollte auf Biegen und Brechen aus dem rückständigen Land einen Staat machen, der nach den Prinzipien des europäischen Rechts strukturiert ist. Und so wurden nach 1923 Gesetze aus europäischen Staaten ins Türkische übersetzt und als türkisches Recht in Kraft gesetzt. So wurde zum Beispiel das Schweizerische Zivilgesetzbuch in wörtlicher türkischer Übersetzung als BGB der Türkei 1927 verbindliches Recht.
Ihr Vater erhielt 1943 die türkische Staatsbürgerschaft, 1945 bei Ihrer Geburt gab er Ihnen zwei türkische Vornamen: Enver Tandogan. Warum ging er 1952 trotzdem in das Land zurück, das ihn einst verjagt hatte?
1948 bei Gastvorlesungen in Deutschland hatte mein Vater insbesondere in München schlechte Erfahrungen mit dem Nachkriegsbetrieb in deutschen Universitäten gemacht. Doch es war der Regierende Bürgermeister Ernst Reuter, der ja auch im türkischen Exil gewesen war, der ihn nach Westberlin holte, mit dem Argument, dass an der neuen Freien Universität kein »Muff von tausend Jahren unter den Talaren« herrschen würde. Die meisten Professoren sind zurückgekehrt. Doch einige blieben, entweder aus Überzeugung oder weil sie keinen adäquaten Arbeitsplatz in ihrer Heimat angeboten bekamen.
Welche Spuren haben die Deutschen in der Türkei hinterlassen?
Önsöz: Eindrucksvolle Spuren sind in der Hauptstadt Ankara zu sehen, wo Deutsche die Stadtplanung prägten, Siedlungen oder Friedhöfe anlegten und imposante Skulpturen, Schulgebäude und Universitäten hinterließen. Nicht nur die Gebäude, in denen sie lehrten stehen noch, auch das, was sie dort vermittelt haben, ist noch erstaunlich präsent. So besuchen wir im Film die Istanbuler Akademie der Schönen Künste, wo Studenten an Aktmodellen Bildhauerei lernen, wie es der deutsche Professor Rudolf Belling ins Curriculum aufgenommen hatte.
Die Juristen ehren immer noch Ernst Hirsch, der das türkische Rechtswesen reformierte, und benennen aktuelle Studiengänge nach ihm. Unvergessen ist auch Professor Eduard Zuckmayer, der Musikpädagoge und Bruder des Schriftstellers Carl Zuckmayer. Bei ihm ging praktisch jeder türkische Musiklehrer in die Lehre. Zuckmayer übersetzte deutsche Kinder- und Schullieder ins Türkische. Meine Eltern sind mit diesen Liedern in ihrer Schulzeit aufgewachsen.
Die Türkei hat sich fast 100 Jahre lang um eine Mitgliedschaft im christlichen Club Europa bemüht. Vergeblich. Sind die heutige Abkehr von Atatürks Laizismus und die Rückwendung zum Islam auch eine Folge dieser europäischen Zurückweisung?
Önsöz: Ich weiß nicht, ob es eine Rückwendung zum Islam ist. Eher eine massive Neuzuwendung … Es wurden die falschen Kräfte unterstützt, um jetzt zu bedauern, dass ein so furchtbar islamisches Land eben keinen Platz im EU-Club hat. Mit der EU holt man aber in der Türkei sowieso keinen mehr hinterm Ofen hervor. Der Zug ist abgefahren.
Das ist eben keine Politik auf Augenhöhe, für die schon Atatürk und sein Nachfolger Ismet Inönü kämpfen mussten. Nach dem Türkisch-Griechischen Krieg war bei den Friedensverhandlungen von Lausanne Inönü ein kleinerer Stuhl angeboten worden, während die europäischen Delegierten in Sesseln saßen. Inönü verließ den Saal und meinte, er könne warten, bis ein ebensolcher Sessel aufgetrieben sei. Das ist eine starke Metapher: So behandelt der Westen andere Kulturen, mit denen er aus Gründen der Ausbeutung gerne »kooperiert«.