Die Not der Palästinenser. Überleben in den Lagern (in: Sonntagsblatt, 21.05.2003)

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Dienstag, 1. September 2015
Ausgabe - vom (Datum): 21-25.05.2003




Die Not der PalästinenserÜberleben in den Lagern

Die Erinnerung an den Tag der Staatsgründung am 15. Mai vor 55 Jahren wurde von den Juden im Heiligen Land wieder als Tag der Freude gefeiert. Die Überlebenden der Konzentrationslager fanden damals in Israel eine neue Heimat. Doch die Staatsgründung ging auf Kosten der Palästinenser, die nach 55 Jahren im Exil oder in Flüchtlingslagern noch immer auf die Anerkennung ihrer Rechte warten. Vom aktuellen Friedensprozess fühlen sie sich ausgeschlossen.Von Sabine Matthes


Eine Frau im Jaramana-Camp bei Damaskus
  Eine Frau im Jaramana-Camp bei Damaskus. Inzwischen übergeben die Großeltern den Enkeln die rostigen Schlüssel ihrer verlorenen Häuser in Palästina als Symbol der Hoffnung auf Rückkehr. Foto: Matthes
Während der 15. Mai 1948 von Israelis wieder als Freudentag ihrer Staatsgründung gefeiert wurde, gedachten die Palästinenser der Nakba, der »Katastrophe«. Für sie bedeutet das Ende des jüdischen Exils den Beginn des palästinensischen Exils.

Die Bedenken, mit denen die arabische Seite 1948 die Teilung Palästinas in einen jüdischen und einen arabischen Staat abgelehnt hatte, bewahrheiteten sich. Knapp 400 der ungefähr 500 palästinensisch-arabischen Dörfer wurden von der israelischen Armee zerstört, und 750.000 Palästinenser, etwa drei Viertel, verloren durch Flucht und Vertreibung ihre Heimat.

Bereits am 11. Dezember 1948 entschied die UNO-Generalversammlung mit der inzwischen über hundertmal bestätigten Resolution 194: »...dass den Flüchtlingen, die in ihre Heimat zurückkehren und in Frieden mit ihren Nachbarn leben wollen, dieses zum frühest möglichen Zeitpunkt gestattet werden sollte.«

Der Schatten des Flüchtlings

Stattdessen verabschiedete die Knesset 1950 zwei Gesetze, das »Law of Return« und das »Absentee Property Law«, die allein die jüdische »Rückkehr« aus aller Welt legitimierten, während sie die »abwesenden« Palästinenser enteigneten. Der israelische Autor Uri Davis beschreibt die Situation: »So hat jeder israelische Jude einen Schatten: den palästinensisch-arabischen Flüchtling von 1948. Israelisch-jüdische Häuser werden auf den Ruinen ihrer Häuser gebaut. Israelische Juden bebauen ihr Land.«

Der Juni-Krieg von 1967 führte zu einer weiteren Vertreibungswelle von knapp 300.000, diesmal von Palästinensern aus der Westbank und Gaza, für die Mehrzahl von ihnen die zweite Vertreibung. Heute sind die Palästinenser eine der ältesten und größten Flüchtlingsgruppen der Welt (ein Drittel). Die Flüchtlinge machen die Mehrheit aller Palästinenser aus.

Was aber denken und wollen die Flüchtlinge selbst, wo und wie leben sie heute? Israels Weigerung, die Verantwortung für das Flüchtlingsproblem zu übernehmen, kommt die Weltgemeinschaft teuer. Seit 1950 bis heute ist das UN-Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge, UNRWA, zuständig für Erziehung, Gesundheit und soziale Unterstützung der 3,9 Millionen registrierten Flüchtlinge. Mit etwa 400 Millionen Dollar Jahresbudget aus dem UN-Haushalt und einem Personal von 22.000 Mitarbeitern konzentriert sich die Hilfe auf die 1,2 Millionen Flüchtlinge in den 59 UNRWA-Flüchtlingslagern, wovon acht in Gaza sind, 19 in der Westbank, zehn in Jordanien, zehn in Syrien und zwölf im Libanon.

In Gaza leben die meisten Flüchtlinge in Lagern, knapp eine halbe Million, durch einen elektrischen Zaun oft nur wenige Kilometer von ihren Heimatorten in Israel getrennt, die sie, bestenfalls, tagsüber als billige Arbeitskräfte sehen dürfen, während sie abends zurück, in ihrem township am Meer sein müssen.

Letzten Sommer sammelten sich teilweise Tausende Westbanker an der jordanischen Grenze nahe Jericho, um der Gewalt und wirtschaftlichen Not zu entfliehen und mit der Begründung, die Israelis würden sie nicht in ihre Dörfer und Lager zurücklassen. Bereits 1948, 1967 und 1991 (für Zehntausende aus Kuwait vertriebene Palästinenser) hatte Jordanien seine Grenzen geöffnet und befürchtet, damit dem rechtsradikalen israelischen Konzept »Jordanien ist Palästina« Vorschub zu leisten. Aber auch Jordanien ist kein Freundesland, nachdem im »Schwarzen September« 1970 in Amman und Zarka 3000 Palästinenser den jordanischen Truppen zum Opfer fielen und 15.000 verletzt wurden.

Übergabe der Schlüssel


Schatila-Camp in Beirut
  Schatila-Camp in Beirut, 1982 Schauplatz eines furchtbaren Massakers christlich-libanesischer Truppen an den Palästinensern. Foto: Matthes. 
Im September 1982 verübten dann christlich-libanesische Phalangisten unter den Augen der in Beirut eingerückten israelischen Armee ein grausames Massaker (bis zu 2000 Tote, zumeist Alte, Frauen und Kinder) in den Lagern Sabra und Schatila. Durch massiven israelischen Protest und die Untersuchungen der Kahan-Kommission wurde der damalige israelische Verteidigungsminister Ariel Scharon aus dem Amt entlassen. Elie Hobeika, damaliger Befehlshaber der Phalangisten, wurde kürzlich unter ungeklärten Umständen ermordet, als er sich bereit erklärte, in einem neuerlichen Prozess als Zeuge auszusagen.

So warten die Opfer bisher vergeblich auf Wiedergutmachung. Der Schriftsteller Jean Genet, der sich damals in Beirut aufhielt, beschrieb das Geschehen in »4 Stunden in Chatila«. Auch zwanzig Jahre später ist dort ebenso spürbar: »... das Heimweh spielte hier auf eine fast magische Weise eine Rolle. Sie laufen Gefahr, Gefangene des unglücklichen Zaubers der Lager zu bleiben.«

Inzwischen übergeben die Großeltern den Enkeln die rostigen Schlüssel ihrer verlorenen Häuser in Palästina, als Symbol der Hoffnung, zurückzukommen in ihre Heimat, die jetzt Israel heißt. Die meisten Flüchtlinge wollen zurück in ihre Heimatorte, nach Haifa, Jaffa, Nazareth, Jerusalem und anderswo, um in einer gemeinsamen jüdisch-palästinensischen Demokratie zu leben, so, wie es die UNO-Teilungsresolution 181 ursprünglich für den israelischen Staat vorgesehen hatte.

Da, wo noch die Ruinen ihrer Häuser stehen, könnten diese wieder aufgebaut werden. 87 Prozent der jüdischen Bevölkerung haben heute ihren Wohnsitz auf etwa 15 Prozent des israelischen Staatsgebiets. Die Rückkehr palästinensischer Flüchtlinge würde zu keiner Vertreibung von jüdischen Einwohnern Israels führen. Völkerrechtlich geregelte Verfahren der Rückgabe, wie in Kosovo und Bosnien oder für andere Flüchtlinge aus Ruanda und Guatemala, könnten angewandt werden, um die Rechte sowohl der palästinensischen Rückkehrer als auch der jüdischen Bewohner auf der Grundlage der Nichtdiskriminierung zu schützen.

Israels Weigerung, das palästinensische Rückkehrrecht anzuerkennen, kommt von dem Wunsch, ein mehrheitlich jüdischer Staat sein zu wollen, in dem Palästinenser als eine »demografische Bedrohung« empfunden werden. So werden auch die in Israel verbliebenen Palästinenser als Fremde im eigenen Land diskriminiert. Viele davon sind interne Flüchtlinge, denen als »anwesende Abwesende« innerhalb Israels die Rückkehr in ihre eigenen Dörfer verweigert wird.

Erschütternde Einzelschicksale

Am Jahrestag der Nakba demonstrieren die Kinder in ihren traditionellen palästinensischen Kleidern in Beirut im engen Gewirr Schatilas, zwischen Ruinen, Obstständen und Wassertanks, für Rückkehr, Freiheit und Selbstbestimmung. Bei einer Kranzniederlegung auf den »Friedhof der Märtyrer« wird der 2500 Opfer des Massakers christlich-libanesischer Phalangisten im August 1976 im Palästinenserlager Tal Al-Zaatar gedacht.

Erschütternd sind die persönlichen Geschichten wiederholter Flucht und Vertreibung, denen die Palästinenser besonders im Libanon mit zehntausenden Opfern immer wieder ausgesetzt waren, durch die Bombardierungen Israels, die Massaker der mit Israel verbündeten Phalangisten oder die schiitischen Amal Milizen.

Eine alte Frau zählt auf: ihre erste Flucht 1948 aus Galiläa, Palästina, nach Al-Nabatiye, Libanon, 1973 zerstört Israel das Flüchtlingslager völlig, zweite Flucht ins Tal Al-Zaatar Camp nach Beirut, 1976 von Phalangisten zerstört, dritte Flucht ins Ain El-Helweh Camp nach Saida, 1982 während der israelischen Invasion zerstört, vierte Flucht ins Schatila Camp nach Beirut, 1985 von Amal attackiert, fünfte Flucht ins Rashidieh Camp nach Tyrus, 1986 Blockade und Aushungerungsversuche der Amal Milizen, sechste Flucht zurück nach Saida, ins Ain El-Helweh Camp...

In Ain El-Helweh, mit 70.000 Flüchtlingen auf zwei Quadratkilometern das größte Camp im Libanon, lebt Baha, die bei einer der vielen NGOs arbeitet. An der südlichen Grenze zwischen Libanon und Israel zeigt Baha auf ihr Dorf in Galiläa, jenseits des Stacheldrahtzauns, so nah und unerreichbar. Sie weint. Nur zwei Stunden ist es von hier nach Jerusalem, zwei Stunden und 55 Jahre, eine Ewigkeit. Sie beneidet die Vögel und staunt über die Unfähigkeit der Menschen, die es schaffen, den Weltraum zum Mond zu überqueren, nicht aber diese Grenze zurück nach Palästina: »Früher kamen die jüdischen Flüchtlinge mit Schiffen zu uns nach Palästina. Sie nahmen unser Land und machten uns zu Flüchtlingen. Warum sollen wir die Rechnung zahlen, für ein Verbrechen, das wir nicht begangen haben? Ihr Deutschen habt doch den Holocaust begangen, nicht wir Palästinenser.«

Ein israelischer Armeezeppelin zieht langsam seine Kreise und wacht mit Adleraugen über diese Grenze, die seltsam unwirklich und unschuldig wirkt. Die »Straße der Märtyrer« führt entlang der Grenze entlang, wo riesige Porträts am Straßenrand an die im Kampf gegen die israelische Besatzung Gefallenen erinnern. Am Fatima-gate, wo sich Hisbollah-Poster und israelische Fahnen wie Papiertiger gegenüberstehen, zeigt Machmud auf die blitzweiße jüdische Siedlung gegenüber, dort, wo Jahrhunderte lang das arabische Dorf seiner Familie stand: »Du darfst, als Deutsche, meine Heimat besuchen, jüdische Europäer regieren sie, Russen wohnen jetzt in meinem Dorf, und wir dürfen nicht mal zu Besuch zurück.«

Nur einmal durften sie am Grenzzaun ihre Verwandten sehen und ihre Wangen gegen den Stacheldraht aneinander drücken. Der Dokumentarfilm »Frontiers of Dreams and Fears« der palästinensischen Filmemacherin Mai Masri zeigt in der Symbolik dieser Grenzbegegnung die Zerrissenheit und das narbenvolle Schicksal der Palästinenser.

Nicht weit ist es bis Khiam, das ehemals berüchtigte Folterlager der damals mit Israel verbündeten südlibanesischen Armee. Hier, wie im Vorgänger, dem Ansar Straflager, waren Tausende Palästinenser und Libanesen gefangen und sollten unter Elektroschock die Namen der Widerstandskämpfer verraten.

Störche fliegen auf zwischen rotem Mohn, ein Ort zum Träumen von einem Schiff, das die Palästinenser aus ihren Lagern rettet, und - unter UN-Eskorte - zurück nach Haifa bringt. Tatsächlich gab es mehrere Ideen und Versuche einer palästinensischen friedlichen Invasion Israels. So wurde die seit den 60er Jahren in Jordanien diskutierte Idee eines palästinensischen »Peaceful March Home« am 14. Mai 1990 versucht, als etwa 40.000, von jordanischer Prominenz unterstützt, fröhlich Richtung Allenby bridge marschierten, wo sie von der jordanischen Polizei mit Tränengas gestoppt wurden. Auch der Versuch, in Anlehnung an das berühmte »Exodus« Schiff jüdischer Flüchtlinge ein entsprechendes »Ship of Return« palästinensischer Flüchtlinge zu den Häfen Palästinas zu bringen, missglückte.

Die »Wiedergutmachung« fand im Nahen Osten statt

Als im Februar 1988 die von der PLO organisierte Fähre »Sol Phryne« im Hafen von Zypern bereitstand, um etwa 130 palästinensische Exilanten unter Begleitung vieler Freunde und Journalisten nach Haifa zu bringen, wurde sie von einer Mine gesprengt: »Explosion zerreißt Friedensschiff« titelte die englische Presse.

In einer Straßenbuchhandlung von Amman steht die Biografie Hitlers im Regal der »Freiheitskämpfer« zwischen Nelson Mandela und Che Guevara. So, wie es für uns nicht vorstellbar ist, dass Juden in Israel zu Tätern wurden, ist es für viele Araber nicht mehr vorstellbar, dass Juden in Europa Opfer waren. Dabei hatten schon in den 30er Jahren arabische Zeitungen erkannt: »Das Problem des Antisemitismus in Europa muss von Europa selbst gelöst werden. Die Palästinenser, ein kleines Volk, können unmöglich diese Last tragen.«

Obwohl der Schauplatz der verheerenden Katastrophe der Shoa in Europa war, fand die »Wiedergutmachung« vor allem im Nahen Osten statt, seitens der Palästinenser. Der palästinensische Knesset Abgeordnete Azmi Bishara beschreibt die Palästinenser als indirekte Opfer des Holocaust, »insofern als sie von seinen direkten Opfern ihrer Heimat beraubt wurden.« Ob man in Berlin daran denkt, einmal ein Nakba-Mahnmal zu bauen?