Der Exorzist hat Selbstzweifel

Aus: Ausgabe vom 06.05.2016, Seite 11 / Feuilleton

»Der Exorzist hat Selbstzweifel«

Als Kopieren selbstverständlich war: Über Hollywood-Adaptionen in der Geschichte des türkischen Kinos. Ein Gespräch mit Cem Kaya

Interview: Sabine Matthes
»Remake, Remix, Rip-Off«, Regie: Cem Kaya, Türkei/D 2014, 96 min, Kinostart: gestern
Der Berliner Filmregisseur Cem Kaya ist mit »Yesilcam«-Filmen, türkischen Remakes von US-Blockbustern, aufgewachsen. Es lieh sie sich aus Videotheken in Deutschland. Sein Dokumentarfilm »Remake, Remix, Rip-Off« geht der Produktionsweise dieser Remakes nach.
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»Der Held ist empirischer Wissenschaftler«: Weniger religiös aufgeladenes Remake von »Der Exorzist«
Foto: UFA FICTION
Was ist Ihr liebstes Remake unter all den türkischen Tarzans, Lassies, Supermen, Exorzisten, E. T.s, Hamlets und Rambos? 
Der US-Western-Klassiker »3:10 to Yuma« (»Zähl bis drei und bete«) von 1957 wurde in Hollywood 2007 mit Russell Crowe und Christian Bale neu verfilmt, und es gibt mittlerweile auch eine TV-Serie. In der Türkei wurde er 1988 unter dem Namen »Muhtesem Serseri« (Ein großartiger Nichtsnutz) von Akut Düz adaptiert. Diese Version ist kein Western, sondern spielt in der Gegenwart. Cüneyt Arkin ist ein alternder Boxer, der einen Verbrecher überführen muss. Mir gefallen hier der an Filme von Bud Spencer und Terence Hill angelehnte Witz und die dokumentarisch anmutende Inszenierung des Istanbuler Rotlichtmilieus. Eine leichtfüßige Komödie mit absurden Elementen, die alles daran setzt, die Originalvorlage zu ignorieren.
Wieso war der Hollywood-Einfluss über Jahrzehnte so dominant? Warum wurden US-Helden kopiert, statt eigene Geschichten zu erfinden?
Bis in die 40er Jahre gab es nur einen Regisseur namens Muhsin Ertugrul, der ursprünglich vom Theater kam. Es gab keine Labore, keine Produktion von Negativen – alles musste umständlich importiert werden –, keine Filmhochschulen. Der einzige Weg, das Filmemachen zu lernen, war das Kino. Es mangelte an Fachpersonal, vor allem an Drehbuchautoren. Und die Regisseure der 60er und 70er Jahre, die hatten in den Jahrzehnten zuvor fast ausschließlich amerikanische Filme konsumiert. Die türkische Adaptionspraxis reicht zurück bis in die Zeit der Tanzimat-Reformen im späten 19. Jahrhundert, als das zerfallende Osmanische Reich sich dem Westen öffnete. Der Schriftsteller Ahmet Mithat zum Beispiel adaptierte Romane wie Cervantes’ »Don Quijote«. In der Einführung stellte er die Romanvorlage vor. In seiner Version verliert der Held seinen Bezug zur Realität dann aber nicht durch das Lesen von Ritterromanen, sondern weil er einer Bauchtänzerin, verfällt, einer »Cengi«, so der Titel des Buches.
Wie muss man sich die Adaption von US-Filmen wie »Manche mögen’s heiß« oder »Dracula« vorstellen? Wurden Untote mit dem Koran bekämpft?
Ganz allgemein kann man sagen, dass alle adaptierten Stoffe auf den Geschmack des türkischen Publikums zugeschnitten wurden. Im Remake von »Der Exorzist« zum Beispiel findet ein islamischer Exorzismus statt. Einer Legende nach haben Produzent Hulki Saner und Meisterregisseur Metin Erksan in London im Kino Notizen über den Film angefertigt, um ihn in Istanbul eins zu eins nachzudrehen. Das Vorbild war in der Türkei sieben Jahre lang verboten. Das Remake ist weniger religiös aufgeladen. Die Exorzisten sind keine Geistlichen, sondern ein Archäologe und ein Schriftsteller. Der Zweifel an der Existenz Gottes fällt weg, der türkische Held ist empirischer Wissenschaftler. Er hat ethische Selbstzweifel, keine religiösen. Im türkischen Remake »Superman kehrt zurück« von Kunt Tulgar bekommt Superman das Kryptonit eingewickelt in einer Häkeldecke aus der Mitgifttruhe seiner Mutter. In »Homoti«, einem der zwei türkischen Remakes von »E. T.«, schüttet man bei Homotis Abreise ins All Wasser hinterher. Das ist ein Brauch, der bedeutet, er möge so leicht wie das Wasser ankommen und genauso leicht wieder zurückkommen. Diese Praxis der Aneignung wird später bei der Synchronisation und Adaptation von westlichen Filmen fortgesetzt. In manche Filme werden selbstgedrehte Szenen wie Moscheebesuche oder Bauchtanzvorführungen geschnitten. Aufgrund der Zensur ähneln sich viele Filme. Die Zensurkriterien waren so umfangreich, dass viele Produzenten es gar nicht erst wagten, neue Stoffe zu verfilmen. Wenn ein Stoff von der Zensur bereits abgenommen war, konnte man nichts falsch machen.
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Der Berliner Filmregisseur Cem Kaya ist mit »Yesilcam«-Filmen, türkischen Remakes von US-Blockbustern, aufgewachsen. Es lieh sie sich aus Videotheken in Deutschland. Sein Dokumentarfilm »Remake, Remix, Rip-Off« geht der Produktionsweise dieser Remakes nach
Foto: UFA Fiction
War man sich in der Türkei der Copyright-Verletzungen bewusst?
In der Türkei waren das Adaptieren und das Recyceln legal, denn das türkische Gesetz, ähnlich dem der USA, beschützte ausländische Werke nur, wenn die Produzenten ihre Rechte angemeldet hatten. Internationale Copyright-Vereinbarungen traten erst zu Beginn der 2000er Jahre in Kraft. Die ausländischen Soundtracks der türkischen Filme stammten meist von Platten, die nicht in der Türkei verlegt worden waren. Die Filmemacher brachten sie aus dem Ausland mit. Da sie in der Türkei gesetzlich nicht erfasst waren, galten sie als Public Domain. Die Türkei war einfach zu klein und abgeschottet, als dass sich große Hollywood-Studios die Mühe gemacht hätten, dort zu klagen. Sie konnten ja weiter ihre Filme dorthin exportieren und verdienten sehr gut. Die türkischen Filme hatten eine andere Zuschauerklientel.
Sind die türkischen B-Movies den US-amerikanischen von Roger Corman oder Ed Wood vergleichbar?
Eine schwierige Frage. Roger Corman drehte ja seine B-Movies nicht aus der Not heraus. Für ihn, der in Oxford studiert hatte, war das ein Geschäftsmodell und ein Weg, subversives Kino zu machen. Er wurde zu Lebzeiten von der Avantgarde bewundert und förderte Karrieren von heute bekannten Hollywood-Größen. Der türkische Regisseur und Produzent Cetin Inanc, den man gerne mit Corman vergleicht, war ein gebeutelter Filmemacher, den niemand ernst nahm und der von einem Film zum nächsten hetzte, weil er seine Miete zahlen musste. Seine Strategie, Soundtracks oder Filmschnipsel aus anderen Filmen zu benutzen, war kein bewusster Akt der Subversion, sondern ein praktischer Weg, die Geschichten zu Ende zu erzählen. Inanc hat übrigens Cormans Rekord als der schnellste Regisseur der Welt gebrochen. Seinen heute leider verschollenen Film »Bombala Oski« aus dem Jahr 1972 drehte er innerhalb von 24 Stunden unter reichlicher Verwendung von Found Footage aus der US-TV-Serie »King of the Rocket Men« von 1949. Viele Ausdrucksmittel des Trash oder des Camp sind ja irgendwie verwandt mit Strategien der Kunst, aber ich wäre vorsichtig mit solchen Vergleichen. Wenn man so will, waren die türkischen Tontechniker die ersten DJs der Welt und Vorreiter des Samplings. Ich glaube aber, wichtiger, als eine Kategorie für sie zu suchen, ist die Frage, was die Kopierpraxis von damals über die Anforderungen von heute aussagt. Man könnte ja einige Lehren aus der Ausnahmesituation der Türkei ziehen, zum Beispiel die Einsicht, dass das freie Sampeln von Musik und Filmschnipseln die Rechteinhaber nicht zwingend in den Ruin treibt. George Lucas oder Ennio Morricone sind ja nicht pleite gegangen, weil Cetin Inanc ihre Bilder und Musik wiederverwertete. Niemand hat deshalb darauf verzichtet, »Star Wars« anzusehen.
Wie steht es heute um das türkische Kino?
Es gibt kaum Filmarchive im Land, viele frühe türkische Filme sind bei Archivbränden vernichtet, viele sozialkritische Filme nach dem Militärputsch 1980 beschlagnahmt und zerstört worden. Man könnte das grob in drei Gruppen einteilen: das Mainstreamkino mit zirka 100 Produktionen im Jahr, die riesige TV-Serien-Industrie, die auch exportiert, und die international bekannten Arthaus-Filmemacher. Die halsbrecherischen Produktionsbedingungen der Yesilcam-Ära werden in der TV-Serien-Industrie fortgesetzt, 120-Minuten-Folgen müssen in der Regel innerhalb einer Woche abgedreht werden. Das bringt einen Verschleiß von Mensch und Maschine mit sich und macht die Filmindustrie in der Türkei zu einer der härtesten der Welt.